Holen wir uns unsere Gesundheit zurück!
(ein Gastbeitrag von Amandara M. Schulze, Berlin)
Bis vor kurzem hieß es für uns MSler wie für alle, die gesund essen wollten, die Vollwerternährung sei das Nonplusultra. Doch wenn wir mit der Diagnose „Autoimmunerkrankung“ die zehn Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung befolgen, werden wir gegebenenfalls noch kränker. Denn wir sind am besten beraten, wenn wir uns für eine Kohlehydrat-reduzierte, im Einzelfall sogar noch besser ketogene Ernährung entscheiden.
Nicht nur amerikanische und australische Wissenschaftler und Ärzte favorisieren diese Form der Ernährung, sondern ihr Nutzen kommt, wenn auch sehr langsam, in deutschen Kreisen an. Professor Paul von der Berliner Charité setzt größte Hoffnung auf eine ketogene Ernährung und Weihrauch. Das stand so in einer kurzen Zusammenfassung seines Vortrags zum Welt-MS-Tag im Kompass 2/2014. Aber was ist das für eine Ernährung, welchen Nutzen soll sie bringen?
Fett kontra Zucker
Unser Körper holt sich normalerweise seine Energie zum Leben zuallererst von der Glukose, dem Blutzucker, bereitgestellt durch kohlehydrathaltige Nahrungsmittel. Bei einer Ketose lösen Ketonkörper – umgewandelte Fettsäuren - die Glukose als primäre Energiequelle ab. Das passiert beim Fasten oder wenn ein Erwachsener über längere Zeit weniger als 35 bis 50 Gramm Kohlehydrate täglich isst. Für MSler ist dieser Prozess so extrem wichtig, weil durch eine Überzuckerung des Blutes eine Insulinresistenz entstehen kann. Das heißt, wir essen und essen und trotzdem bekommt unser Gehirn zu wenig Energie. Das ist der Versuch, in wenigen Sätzen komplizierte biochemische Sachverhalte zu beschreiben. Prof. Dr. med. Marco Prinz, Ärztlicher Direktor des Instituts für Neuropathologie am Universitätsklinikum Freiburg konnte gemeinsam mit Kollegen nachweisen, dass ein intaktes Immunsystem des Gehirns von einer gesunden bakteriellen Darmflora abhängt. Es gibt weltweit immer mehr Forscher, die zu diesen und ähnlichen Ergebnissen kommen.
Was nutzt uns das als Betroffene? Damit nicht alle Theorie "grau" bleibt, macht sie die Internistin Frau Dr. Terry Wahls aus Iowa "bunt". Durch ein erfolgreiches Selbstexperiment, bei dem sie sich auf die Erkenntnisse moderner Ernährungswissenschaft stützt, wurde sie die Vorreiterin einer speziellen Ernährung für MSler. Sie hat die primär progrediente MS und war 2007 schon auf einen Liegerollstuhl angewiesen. Heute fährt sie wieder lange Strecken Fahrrad. Diese Ernährung, auch Wahls Protocol genannt, basiert auf der sogenannten Paleo- oder Steinzeitdiät, geht aber weit darüber hinaus.
Mitochondrien sind Bestandteile einer Zelle und versorgen diese mit Energie. Nervenzellen haben besonders viele davon. Das Wahls Protocol hat das Ziel, diesen Mitochondrien im Gehirn und Rückenmark alles zur Verfügung zu stellen, was sie dringend benötigen, um einwandfrei zu funktionieren. Eine gesunde Darmflora – Darmmikrobiotika – ist die Grundvoraussetzung, dass nur nährende Stoffe in den Blutkreislauf gelangen und schädliche neutralisiert oder ausgeschieden werden. Siehe auch Merkblatt Zucker und MS und Darmflora und MS
Buntes Gemüse und Obst
Das ist auf den ersten Blick gar nicht so einfach, weil wir einen hochkomplexen Organismus haben. Deshalb teilt Frau Dr. Wahls ihr Ernährungsprogramm in drei Schritte auf:
das Basis-,
das Paläo- und
das Paläo-Plus-Programm.
Bei Wahls heißt es: Iss reichlich, iss lecker, iss bunt! Am Tag: neun Tassen Gemüse und Obst, viel Eiweiß, Nüsse und Samen und gesunde Fette. Beim Paläo-Programm kommen fermentierte Lebensmittel dazu sowie Meeres- und Seealgen, bei dem Paläo-Plus-Programm ist Fett die Basis.
Dabei geht es darum, so vielfältig wie möglich zu essen. Von den neun Tassen sollen es drei Tassen grünes Gemüse sein und davon auch kalziumreiches wie Rucola, Spinat oder der asiatische Senfkohl Pak Choi. Grüne Gemüse liefern viel Power und schützen vor Krebs und Entzündungen.
Die nächsten drei Tassen sind bunt. Rot wie Kirschen oder Tomaten, blau, violett oder schwarz wie Aroniabeeren, Feigen oder Auberginen, gelb und orange wie Ananas, Kürbis oder Süßkartoffeln. Diese bunten Früchte stecken voller Antioxidantien und diese schützen uns nachweislich vor Herzkrankheiten, Krebs und Demenz. Antioxidantien sind die Stoffe, die unsere Körper vor freien Radikalen schützen, die wiederum Zellschäden verursachen. Die letzten drei Tassen füllen schwefelhaltige Gemüsesorten wie Kohl, Zwiebelgewächse, Pilze und Spargel. Schwefel hilft dem Körper bei der Entgiftung und schützt die Gelenke und Blutgefäße. Er unterstützt die gesunde Funktion des Darms und der Leber und nährt unsere Gehirnzellen. Übrigens zählen zwei Zehen Knoblauch am Tag schon als eine Tasse Gemüse. Bei Obst haben wir am meisten von Beeren, je dunkler das Obst oder Gemüse umso nährstoffhaltiger. Wir dürfen auch Äpfel oder Bananen essen, zählen sie aber nicht zu den neun Tassen hinzu.
Einige Menschen vertragen keine Nachtschattengewächse, das sollte jeder selbst klären, nur wer sich für das Paläo-Plus-Programm entscheidet, sollte Nachtschattengewächse weglassen.
Durch den relativ hohen Anteil an Gemüse und Obst ist Terry Wahls Ernährungsprogramm in den ersten beiden Phasen zunächst kohlehydratarm, frei von Getreideprodukten und Zucker. Die Kohlehydrate werden mehr und mehr zurückgedrängt, um in der dritten Phase in die Ketose zu kommen. Allerdings werden über einen relativ hohen Anteil von Kokosöl (siehe weiter unten) dem Körper direkt Ketonkörper zugeführt, sodass diese alternative Energiequelle den Zellen schon vorher zur Verfügung steht (Für Diabetiker Typ I und für Schwangere ist eine ketogene Ernährung ungeeignet s.u.).
Ursprüngliches Eiweiß
Wahls möchte, dass wir jeden Tag tierisches Eiweiß essen. 250 bis 600 Gramm je nach Geschlecht und Körpergröße Das ist eine ganze Menge und sie erklärt, warum: Essentielle Eiweiße kann unser Körper nicht alleine bilden, braucht sie aber für seine Lebensfunktionen. Wenn wir unserem Körper nicht die nötigen Aminosäuren zufügen, holt er sich diese aus eigenen Muskel- und Organzellen und isst sich sozusagen selber auf. Fleisch und Fisch verfügen über lebensnotwendige Fettsäuren. ALA, die Alpha-Linolensäure, wird im Internet als Allheilmittel für MSler beschrieben. Sie kann wie alle lebensnotwendigen Nahrungsmittel ihre nützlichen Eigenschaften nur dann voll entfalten, wenn die gesamte Zusammensetzung der Nahrung und speziell der Fettsäuren stimmt.
Die Internistin aus Iowa plädiert dafür, dass wir auch Knochen, Sehnen und Knorpel mitverwenden, weil sie Kollagen und andere Nährstoffe für unsere eigenen Knochen und Gelenke liefern. Am einfachsten geht das mit Knochenbrühe, für die es keinen vegetarischen Ersatz gibt. Wer nicht so viel Fisch und Fleisch essen mag oder kann, probiert es zusätzlich mit Eiern. Da Frau Dr. Wahls sie persönlich nicht verträgt, existieren sie in ihrem Programm nicht. In einer noch unveröffentlichten Charitéstudie hat sich die Ernährung mit dem höchsten Eierverzehr als die vorteilhafteste für MS-Patienten erwiesen.
Im Wahls-Protocol gibt es keinerlei Milch- oder Milchprodukte. Casein, wie übrigens auch Gluten, erhöht den Dopaminspiegel und tritt so mit denselben Rezeptoren in Wechselwirkung, die von Betäubungs- und Suchtmitteln stimuliert werden.
Dafür führt sie Innereien wieder in unseren Speiseplan ein. 350 Gramm pro Woche Leber, Herz, Nieren und Zunge sollten ab dem Paläo-Programm wieder Einzug in unsere Küchen halten. Wer sie überhaupt nicht mag, kann sie in normalen Gerichten „verstecken“ also püriert oder stark zerkleinert mit untermischen. Am besten in Kombination mit Meeres- oder Seealgen. Bei vielen Naturvölkern steht der Verzehr der rohen warmen Leber eines frisch erlegten Tieres dem erfolgreichen Jäger zu. Selbst heute noch behält der erfolgreiche deutsche Jäger die Leber des erlegten Tieres zum selber essen. In den inneren Organen finden wir eine hohe Nährstoffdichte an Vitaminen, Spurenelementen und essentiellen Fettsäuren. Weiter aufgewertet wird unser Speiseplan durch grüne, braune und rote Algen, die über ein einzigartiges Nährstoffprofil - Jod und viele wertvolle Mineralstoffe - verfügen.
Einig sind sich Dr. Wahls und andere Wissenschaftler, dass Fleisch und Fisch aus Jagd, Wildfang und natürlicher Weidetierhaltung stammen sollten. Sie hat auch Schweinefleisch und Geflügel in ihren Ernährungsplänen, während der Berliner Professor Paul nur rotes Fleisch favorisiert.
Viel Fett für die Gesundheit
Bei den Fetten steht Kokosöl an erster Stelle, weil es das einzige Pflanzenfett ist, das bei Hitze – also beim Braten oder Kochen – nicht denaturiert und Ketonkörper enthält. Wichtig ist das richtige Verhältnis von Omega 6- zu Omega 3-Fettsäuren, da wir in unserer heutigen Ernährungsweise einen zu hohen Omega 6- Anteil haben, sollten wir frisches bis zu drei Tage altes Leinöl, Hanf- oder Walnussöl kalt verwenden. In Maßen gut sind kaltgepresstes Oliven-, Sesam- oder Avocadoöl. Und sie müssen kalt bleiben, sonst stellen wir aus Versehen zuhause selbst gehärtete oder Transfette her. Aus dem Grund verzichten wir auch auf Margarine und essen wieder ein wenig Butter aus Weidetierhaltung oder schwenken auf Ghee um, geklärte Butter.